Endlich wieder ein herrlicher Sonntag in diesem oft verregnetem Sommer. Es ist 10.00 Uhr und aus allen Himmelsrichtungen strömen Hunderte von Menschen in Richtung eines Sportlertreffs.
Die meisten von ihnen sind bunt gekleidet und atmen spürbar Gefühle der Lockerheit und gute Stimmung aus. Böse Worte oder gar Krawalle sind in dieser Welt nicht zu Hause.
Sie haben richtig erkannt- Wir befinden uns mitten unter dem Volk der Marathonläufer.
Die „richtigen“ Marathonis waren bereits vor 2 Stunden hier an dieser Stelle, und sind inzwischen schon einige Kilometer auf der Strecke unterwegs. Übriggeblieben sind nur noch die „Halben“ die demnächst die Minidistanz von 21100 Meter bewältigen müssen.
Viele warten geduldig, manche aber auch sehr ungeduldig auf die Busse, die sie zum Start bringen sollen. Als Betrachter kann man sich kaum ein richtiges Bild von dem machen, was in den Köpfen so mancher Läufer vor sich geht. Zu unterschiedlich sind Sportler vor Ihrem Wettkampf.
Unter einem Baum beobachte ich einen älterer Läufer der noch einmal kräftig an seiner Zigarette zieht, bevor er sie unter dem Fluch „scheiß Ding“ in den Straßengraben befördert. Die Frage einer Läuferin „ist im Bus eine Toilette“ beantwortet sich unter lautstarkem Lachen der ganzen Meute, von alleine.
Als der Bus dann endlich vorfährt, erhält eine Gruppe von Allwissenden eine herbe Schlappe. Der Busfahrer jongliert sein Gefährt an eine Stelle die für viele, den bereits fest ei
ngeplanten Sitzplatz in weite Ferne rücken lässt.
Auch ich gehöre bereits vor dem Lauf zum Feld der Geschlagenen und muss mir das weitere Geschehen in Stehen ansehen.
Ich mach das aber ganz gerne. Erstens habe ich hier den besseren Überblick, und zweitens bemerke ich, dass andere den Sitzplatz viel nötiger haben wie ich. Denn bevor der Bus sich überhaupt in Bewegung setzt, ist ein Teil der Sitzenden schon in den Tiefschlaf verfallen.
Nicht eine hübsche Blondine auf die mein Blick immer wieder fällt. Sie quält ihren Klappspiegel und Schminkkasten während der ganzen Fahrt. Beim Eiskunstlauf hätte ich ihre Bemühungen ja verstehen können, aber beim Laufen sind die Kampfrichter Uhren, und die sind nun mal nicht bestechlich.
Lange hatte ich angesichts des nahe liegenden Luftwaffenstützpunktes für einen jungen Mann die Frage auf den Lippen „willst Du in den Krieg ziehen?“, aber ich verkneife sie mir. Denn der Rucksack auf seinem Rücken, und die vier „Trinkhandgranaten“ am Gürtel ließen mich eher auf eine militärische Aktion schließen, wie auf einen Halbmarathon.
Auch das Gespräch zweier Ärzte über den Sinn und Zweck von Aspirin vor einem Lauf ließen mir die Haare zu Berg stehen. Die Sprache der Beiden klang bayerisch, was in mir die Hoffnung weckte, wohl kaum jemals in die ärztliche Obhut dieser Spezialisten geraten zu müssen.
In regelmäßigen Abständen schien mein Puls verrückt zu spielen. Von Scheintod mit 50 Anschlägen bis zum Herztod mit 200 Hammerschlägen blinke auf dem Display meiner Uhr
Jede nur denkbare Zahl auf. Aber das Beste daran ist, ich trage überhaupt keinen Brustgurt. So begehe ich innerhalb von wenigen Minuten tausendfachen Missbrauch mit den sensibelsten Daten meiner Konkurrenten.
Kurz vor der Ankunft passieren wir ein großes provokatives Werbeplakat einer fragwürdigen Partei. „Reichtum für Alle“ steht dort auf großen Lettern geschrieben. Nachdenkl
ich geworden schweift mein Blick noch einmal durch den inzwischen hellwach gewordenen Bus.
Topmoderne Bekleidung der großen internationalen Sportartikelhersteller bestimmen eindeutig das Geschehen. Auch das wichtigste Werkzeug der Läufer, die Schuhe, lässt keine Zweifel aufkommen. Discounterware passt nicht an ambitionierte Sportlerbeine. Während fröhlich lachende Läufer mit Designersonnenbrillen und High Tec Computern am Arm aus dem Bus strömen fällt mir wieder ein Bericht über junge afrikanische Läufer ein. Teils barfuss, teils mit abgetragenen Latschen ertragen sie echte Armut mit einem Lächeln auf den Lippen und der Hoffnung, irgendwann einmal mit eigenen Schuhen laufen zu dürfen.
Klar, der Vergleich hinkt. Aber anstelle flacher Parolen sollten wir mit viel Demut "unsere Armut" ertragen.